Essay.Koehler

Kurzessay zur Biographie Romain Rollands

von Hartmut Köhler (Romanist und ehem. Präsident der Gesellschaft der Freunde Romain Rollands in Deutschland e.V.) *1940 +2012
Über Romain Rolland


„Diese furchtbare Krise wird für uns alle, Schriftsteller, Denker, Wissenschaftler, eine harte Lektion bleiben [...] In Zukunft müssen wir besser gerüstet sein gegen die Wiederholung einer solchen Plage (denn wir dürfen uns nicht einbilden, dass dieser Wahnsinn der letzte sei). Unsere Aufgabe wird darin bestehen, uns später auf eine europäischere Art und Weise zu organisieren. Übrigens hege ich die Hoffnung, dass auf die ungeheuren Leiden und die Raserei dieser Monate eine Reaktion folgen wird und dass die Völker, beschämt, wundgeschlagen und reuig erwachen werden.“

So hatte Romain Rolland schon am 28. März 1915 an Albert Einstein geschrieben (Briefe nach Deutschland, übers. von P. Lenz-Medoc, München 1974, S. 5).


Es hat in Europa bekanntlich erst der zweiten, von Rolland geahnten Katastrophe bedurft, bis diese Einstellung nach und nach Allgemeingut wurde, doch angesichts der Tatsache, dass es in der Welt auch nach dem Zweiten Weltkrieg schon etwa zweihundert Kriege gegeben hat, kann alle Vernunft nur dazu raten, uns solcher Warner auch in Zukunft zu erinnern. Nichts sollte uns davon abhalten, diesem außergewöhnlichen Schriftsteller, der wie kein anderer sich unermüdlich gegen den nationalistischen Rivalitätswahn stemmte, noch heute unsere Achtung zu erweisen. Es dürfte in Europa keinen anderen gegeben haben, der mit gleicher Beharrlichkeit und Lauterkeit kollektivistische Machtideologien zurückwies und dabei bewahrenswerte Traditionen so klar vor Augen behielt: die Freiheit und die Gleichheit von 1789, die Friedfertigkeit und die Menschenliebe, sei sie von Christus oder von Buddha inspiriert, das Mitgefühl Dantes, die Selbstverantwortlichkeit von Erasmus, die Ehrlichkeit Montaignes, die Skepsis und den Humor von Rabelais, die Toleranz wie die politische Leidenschaft Voltaires, die Universalität Goethes, die Intimität Stendhals. Er verband die Bewusstheit des Eigenen, die er – bei aller Skepsis gegenüber ihrer Enge – aus seiner burgundischen Heimatprovinz mitnahm, mit der Offenheit für das Andere, für bestimmte Züge der deutschen, der russischen, später der indischen Kultur, die er – bei allen Vorbehalten gegen den geistigen „Jahrmarkt“ – sich in Paris erwarb. Überwölbt wurde all dies von einem tiefen Verständnis für die Musik, zumal die Beethovensche. Wenn ein Mann dieses Formats heute so weitgehend dem Vergessen anheimgefallen ist, dann – so steht zu vermuten – muss da ein schamhaftes Verdrängen von uns allen vorliegen: Was soll uns dieser lästige Mahner noch, er hat doch damals vergeblich gepredigt, und heute ist das alles überholt...! Sollte diese Vermutung für Deutschland zutreffen, so kommt für das Frankreich der letzten Jahrzehnte hinzu, dass man im Zuge einer allzu eilfertigen Abwendung von allem „Linken“ ihm seine – gewiss sehr spät, nämlich erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt, revozierte – Annäherung an den Leninismus glaubt verübeln zu müssen. Auch dort ist seine Leserschaft arg geschrumpft. Nur eine kleine, allerdings standhafte Gesellschaft der Freunde, die ihren bescheidenen Ableger in Deutschland hat, setzt sich weiterhin für ihn ein.


Es ist heute schwer vorstellbar, mit welcher Verehrung man sich in den Zwischenkriegsjahren vor allem in Deutschland dem Schriftsteller näherte, der zu dem wurde, was man damals einen maître à penser und heute etwas linkisch einen Kultautor nennt.


Diese Verehrung hat noch etliche Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg angehalten, Jahre, in denen viele Menschen in Rollands Werken das suchten, was man geistigen Halt nannte. Dies galt in besonderem Maße auch für die sogenannten sozialistischen Länder, in denen seine Verehrer allerdings bald in Bedrängnis gerieten, weil die Machthaber glaubten, Rolland aufgrund seiner Einstellung zur Russischen Revolution für sich selbst vereinnahmen zu können, was in jedem echten Rolland-Bewunderer nur Schaudern auslösen musste (nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 hatte Rolland die Weltöffentlichkeit aufgerufen sich klarzumachen, dass diese Tat eine „militaristische und revanchistische Reaktion“ in Deutschland hervorrufen müsse).


Schon in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich erste blasierte Skeptiker in Frankreich und anderswo gefragt, ob Rolland wohl in Zukunft nur mehr ein Autor für Jugendliche und für... Chinesen sein werde, genoss Rolland doch in den fernöstlichen Ländern zunehmend höheres Ansehen. Aus Gründen, die noch der genaueren Erforschung harren, aber mit Sicherheit viel Aufschluss über unsere Entwicklung seit Rollands Tod geben könnten, der ja fast mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfiel, sind ihm viele ohne großes Nachdenken darin gefolgt. Der Romanist Gerhard Schewe, der in der DDR bedeutende Arbeiten zu Rolland veröffentlicht hat, zitiert aus einer sogar schon 1945 in der Schweiz gehalten Gedenkrede den Satz: „Es gibt keinen unbekannteren Schriftsteller als den weltberühmten Nobelpreisträger Romain Rolland“, was ein paradoxes ,aber treffendes Licht auf die Lage bis heute wirft. Die emotional hoch aufgeladene Atmosphäre der Kriegs- und Zwischenkriegsjahre hat – wie denn auch nicht! – Rollands Schreiben, das sich gegen sie richtete, mitbestimmt. Der Referenzrahmen, wie man heute sagt, ist ohne die Gemütswallungen des Krieges und der Kriegshetze nicht zu erfassen. Das Privileg der Literatur ist es, aus einem solchen Rahmen herauszutreten und immer neu und unvorhersehbar in eine Gegenwart hineinzuwirken. Gewiss hat sich mit der weitgehenden Erfüllung von Rollands Vision eins geeinten Europas auch die Erwartung an Ton und Tenor der Schriftsteller verändert. Gewiss ist die heute wissenschaftlich betriebene Konfliktforschung genauer und nüchterner. Nur bewegt sie kaum jemanden. Doch nötigen gerade ihre Ergebnisse und Prognosen uns den Schluss auf, dass, um mit dem Kulturhistoriker Klaus Thiele-Dohrmann zu sprechen, Rollands „Vision einer gewaltfreien Welt“ auf unserem Globus nicht sobald ihre Aktualität einbüßen wird. Wir werden auf den großen Mahner nicht verzichten können.


Mit seinem zehnbändigen Romanzyklus Jean Christoph, veröffentlicht zwischen 1904 und 1912, in deutscher Übersetzung von Erna und Otto Grautoff bereits 1914 im Verlag Rütten und Loening erschienen, hat Rolland ein umfassendes Panorama der geistigen, moralischen und künstlerischen Bewusstseinslage seiner Epoche gestaltet. Der Protagonist, ein deutscher Musikschaffender aus einer Kleinstadt am Mittelrhein, der nach Paris strebt und zehn Jahre später sich in Rom wiederfindet, verkörpert nicht nur eine individuelle Künstlerproblematik, sondern bündelt darüber hinaus eine Fülle von kulturellen und politischen Erkenntnissen für die Entwicklung Westeuropas.


Das Werk stellt eine in diesem Umfang einmalige Synopsis von deutscher und französischer Geisteshaltung dar, fußend auf genauer Kenntnis der kulturellen Traditionen beider Länder. Rolland weiß sich in hohem Maße den Persönlichkeiten Goethes und vor allem Beethovens verbunden. Die Freundschaft des Deutschen Christoph mit dem Franzosen Olivier, in der sich die Persönlichkeit ihres Autors gleichsam zweiteilt, bietet ein äußerst fruchtbares, spannungsvolles französisch-deutsches Dialogmodell in erlebter Form, und dies zu einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen beiden Ländern tiefgreifend von Revanchegedanken und Überheblichkeit vergiftet waren. Rollands Liebe zur deutschen Musik und sein analytisch-kritischer Humanismus aus dem Geiste Montaignes und Voltaires haben hier zu einer unerwarteten Synthese gefunden.


Die zeitkritischen Schilderungen, zum Teil mit erheblicher Verve vorgetragen, erweisen sich als durchaus auch für unsere Gegenwart noch erhellend, oft genug frappierend. Rollands Ideal eines unabhängigen, seinem Schaffen verpflichteten, aber von Verantwortung für seine Mitmenschen getragenen Charakters hat ohne Zweifel überzeitlichen Wert. Sein Eintreten für Verständnis und Toleranz, ganz besonders seine nachdrückliche Warnung vor dem Antisemitismus (auf dem Höhepunkt der Dreyfus-Affäre!) sind in den Personen dieses roman-fleuve inkarniert.


Sein vielleicht schönstes Werk, der Roman Colas Breugnon, 1914 bereits abgeschlossen, jedoch erst 1918 erschienen, ein „fröhliches Buch“, eine Feier der Heimat Burgund im Ton und Stil Rabelais’, hat Autor wie Lesern in kriegsbestimmten Zeiten seelische Entlastung bedeutet. Auch hiervon hat das Ehepaar Grautoff eine bemerkenswert gute Übersetzung zustande gebracht.


Moralisch am beeindruckendsten sind jedoch Rollands dezidierte, mutige Stellungnahmen gegen den Krieg, die er zwangsweise von der neutralen Schweiz aus formulierte und die ihm im eigenen Land wie in Deutschlandjahrelange Anfeindungen einbrachten. Im Zentrum dieser Schriften, auf die ein neues Verlagsvorhaben auf keinen Fall verzichten kann, steht der berühmte, am 15. September 1914 im Journal der Genève veröffentlichte Artikel: „Au-dessus de la mêlée“ – „Über dem Kampfgetümmel“, was keineswegs Ausdruck von Überheblichkeit ist, sondern im Gegenteil eine leidenschaftliche Anklage gegen verantwortungslose Politiker wie gegen Kriegstreiber in den intellektuellen Eliten auf beiden Seiten. Weniger noch als alles andere hat diese Schrift an Aktualität verloren.


Im Widmungstext der Stockholmer Akademie, die ihm im Jahre 1917 den Literatur-Nobelpreis verlieh, ist dieser Zug aus diplomatischen Gründen nicht in den Vordergrund gerückt worden, obwohl er bei der Auswahl entscheidend gewesen sein dürfte. Dort heißt es im Übrigen, der Preis sei Rolland – rückwirkend für das Jahr 1915 –zuerkannt worden, „pour lui rendre hommage de l’idéalisme élevé de sa production littéraire, ainsi que del’exactitude empreinte de sympathie avec laquelle il a su peindre les divers types humains.“


Dieser zuletzt genannte Zug, die unbeirrbar genaue, doch nie menschenverachtende Schilderung einer schier unbegrenzten Zahl von Romancharakteren – in ihrer Mehrzahl Frauen – ist zweifellos die größte Stärke des Jean Christoph.


Zu den – nicht sehr zahlreichen – Vertretern des deutschen Geisteslebens, die sich für seinen Anspruch aufgeschlossen zeigten, stand Rolland in engem persönlichen und brieflichen Kontakt: zu Stefan Zweig, zu Albert Einstein, zu Ernst Robert Curtius, der ihn in seinem berühmten Buch Wegbereiter des modernen Frankreich als erster in brillanter, seither nicht übertroffener Form bekannt gemacht hatte, aber auch zu Sigmund Freud, der ihn als einen Freund bezeichnete und seinerseits von ihm – wie erst kürzlich bekanntwurde – mehrfach der Stockholmer Akademie für einen Nobelpreis vorgeschlagen wurde.


Den Anfeindungen zum Trotz wuchs nach dem Ersten Weltkrieg in aller Welt die Zahl seiner Bewunderer und Anhänger beständig. Das 1926 in Zürich erschienene, ihm zum sechzigsten Geburtstag gewidmete Liber amicorum enthält Beiträge von Maxim Gorki, Georges Duhamel, Stefan Zweig, Mahatma Gandhi, Hermann Hesse, Annette Kolb, Jan Masaryk, Frans Masereel, Fridtjof Nansen, Richard Strauss, Rabindranath Tagore, Israel Zangwill, Heinrich Zangger, Seiko Yoshimura, Leon Werth, H.G. Wells, Charles Vildrac, Jose Vasconcelos und Fritz von Unruh.


Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg – Nationalsozialismus und Faschismus hatten Rolland erwartungsgemäß von neuem geächtet – griffen noch viele Leser zu seinen Büchern auf der Suche nach Neuorientierung. Im Jahre 1945 vertonte der elsässische Komponist Charles Koechlin (1867 – 1950) den Band IX von Jean Christoph, „Le buisson ardent“ (Der brennende Busch), als symphonische Dichtung (op. 201; CD: Orchester des SWR, Leitung Heinz Holliger). In diesen Jahren erfolgte in Deutschland die Gründung einer Romain-Rolland-Gesellschaft, deren erste Präsidenten Wilhelm Furtwängler, Wilhelm Kempff und Carlo Schmid hießen.


In den folgenden Jahrzehnten flaute das Interesse der Öffentlichkeit indessen stark ab. Dafür hat man die verschiedenartigsten Gründe vorgebracht. Sentimentalität, Mangel an Gestaltung oder an artistischem Stilwillen lauteten die Vorbehalte, übersteigerter Individualismus, aber auch Sympathie für den Sozialismus Leninscher Prägung wurden ihm angekreidet, dann wieder weltanschauliche Unschärfe oder ein Hang zum Mystizismus.


Doch war bei den zahlreichen, recht disparaten Kritiken stets auch das Bewusstsein zu spüren, dass die Vorwürfe allenfalls hier und da zuträfen (neuere Forschungen, gestützt auf die seit dem Jahr 2000 freigegebenen Tagebücher, haben insbesondere den Besuch bei Stalin vor dem Hintergrund der verbreiteten Ergebenheit der französischen Linken in ein anderes Licht gerückt). Charakteristisch ist etwa die Einschätzung des Dictionnaire des oeuvres der Verlage Laffont und Bompiani von 1953, dass die Einwände aufführt, sie jedoch nicht für immer und ewig gültig hält. Der Misskredit, in den das Werk geraten sei, werde sich gewiss als vorübergehend erweisen („sans doute provisoire“).


Das war bedauerlicherweise doch noch zu optimistisch. Denn heute ist die Lage eher desolat. Und zwar auf beiden Seitendes Rheins. Doch es hieße ein schlechter Leser Rollands zu sein, wenn man sich dadurch für alle Zeitenentmutigen ließe. Mit guten Gründen lässt sich die Behauptung vertreten, dass das Desinteresse an Rolland nur schlechten Gründen entspringt: Blasiertheit, Leseunlust, Konformismus, psittacisme, also der Neigung, nachzuplappern, was andere irgendwo von sich gaben...


Nur Hochmut kann annehmen, wir seien heute mit Schriftstellern vom geistigen und moralischen Format eines Romain Rolland so reichlich gesegnet, dass wir leichten Herzens auf ihn verzichten können. Man darf es auch durchaus als einen Skandal – und zwar einen deutsch-französischen Skandal – bezeichnen, dass wir seinen Namen noch immer im Nebel der Geschichte stehen und sein Werk in Antiquariaten verstauben lassen. Nicht zuletzt auch angesichts des hohen Interesses, das im mittleren und Fernen Osten, in Indien, Japan, ja selbst in China, diesem Autor nach wie vor entgegengebracht wird. Es ist auch nicht rühmlich, dass Rolland in der DDR hier und da noch mehr Aufmerksamkeit fand als in der Bundesrepublik. Im Übrigen kann die Debatte über eine nichtbornierte, nicht hasserfüllte Art der Reaktion auf kulturelle oder gesellschaftliche Fehlentwicklungen, wie sie aktuell etwa um  Schriftsteller wie Martin Mosebach geführt wird, sich Impulse bei Rolland suchen.

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